Leseprobe

LUNAY - DIE HOFFNUNG AUFHEBEN

 

Plötzlich kreischten Vögel. Es schallte von überall, als ob jemand den Lautstärkeregler voll aufgedreht hätte. Lea hielt sich die Ohren zu. So weit das Auge reichte, überflogen Krähen, Tauben und kleinere Vögel den Park in Richtung Osten. Dann wurde es abrupt wieder still. William schaute in den Himmel. »Was war das? Lass uns nach Hause gehen«, sagte er besorgt. Emily nickte. Eine Parkbank weiter blieb ein älteres Paar stehen. Der Mann taumelte. Seine Frau versuchte noch, ihn zu stützen, doch er landete unsanft auf dem Boden. 
»Emily, komm, lass uns den alten Leuten da vorne helfen«, sagte William. 
Keine Antwort. 
Er wollte schneller gehen, bemerkte aber, dass seine Frau Mühe hatte, Schritt zu halten und fast stolperte. »Emily, was fehlt dir?« 
Emily antwortete nicht. Leicht nach vorne gebeugt, schaute sie apathisch auf den Boden. Lea begann zu weinen. Ein Schatten floss langsam über den Park und verdunkelte ihn wie bei einer Sonnenfinsternis. Das Licht nahm eine bleifarbene Tönung an. Aus der Stadt ertönten gleichzeitig Sirenen von Kranken und Polizeiwagen. Ein Hupkonzert ergänzte das Ensemble, hinzu kamen Alarmanlagen, die von überall aufheulten. William blieb stehen und schaute sich irritiert um. Ein ohrenbetäubendes Sirenenorchester erfüllte die Luft. Urplötzlich schlug etwas Großes in den See. Wasser bäumte sich rauschend auf. William hatte nicht gesehen, was da vom Himmel gefallen war. Als er nach oben schauen wollte, schlug hinter ihm etwas mit voller Wucht dumpf auf. Gras und Erde trafen ihn am Rücken. Er schaute hinter sich. Ein Mensch mit merkwürdig verdrehten Armen und Beinen lag auf dem Rasen. 
Nur ein paar Meter weiter schlug ein weiterer Körper auf. William duckte sich und schaute nach oben. Menschen. Tausende menschlicher Gestalten schwebten wie an seidenen Fäden aufgehangen über dem Park. Wie schwerelos drehten sie sich in alle möglichen Positionen. Und immer wieder fiel einer von ihnen wie ein Stein herunter in den Park. »Emily, Emily, los!«, rief William und bemerkte geschockt, dass seine Frau in diesem Moment vom Boden abhob und wie ein Lampion langsam in die Höhe stieg. Auch Leas kleiner Körper löste sich aus dem Buggy. Instinktiv griff William nach den beiden, verfehlte seine Tochter knapp, die wie ein Luftballon schnell emporstieg. Er hatte seine Frau am Gürtel gepackt, ließ sie los, um nach der Kleinen zu greifen – vergeblich. Er sprang nach seiner Frau und schaffte es, ihre Beine zu umklammern. Mit aller Kraft presste er sein Gesicht gegen ihre Waden und hing nun wie unter einem Aufzug der emporstieg. Der Boden entfernte sich von seinen Füßen. An seinen Beinen vorbei sah er, wie der Park unter ihm kleiner wurde. Auch wenn seine Kraft schwand, William würde nicht loslassen.


Irgendwo in Australien … 
Die Weiten des Kontinents waren wie gewöhnlich der grellen Mittagssonne ausgeliefert. Irgendwo im Süden des Landes, in einem Gebiet mit schütteren Grasinseln und vereinzelten Eukalyptusbäumen, fuhren fünf schwarze Jeeps, verziert mit dem stilisierten Schmetterling der Weltpartei, in einer Linie durch die kupferfarbene Landschaft. Ein lang gezogener Schweif aus Staub und Sand hinter den Fahrzeugen gab dem Beobachter ein Gefühl von nahendem Unheil. Die Kolonne erreichte ein Plateau und zog einen weiten Kreis, bis sie in ihre eigene Staubwolke hineinfuhr. Roter Sand, wohin das Auge reichte. Bremslichter leuchteten auf. Mit einem Ruck hielten die Wagen. Die herabsinkende Staubwolke enthüllte die Silhouette eines fast nackten Ureinwohners, der einen Speer in der Hand hielt. Im mittleren Jeep saß ein hochrangiger Vertreter der Partei auf der Rückbank. Seine grauen Haare waren wie mit dem Lineal ausgerichtet und glatt nach hinten gekämmt. Er wartete zunächst und betätigte einen Knopf, woraufhin die getönte Scheibe mit einem leisen Surren in der Tür verschwand. Etwas Staub und der Duft von Dürre wehten in den Jeep. Der Fahrer drehte den Innenspiegel für den Mann im Fond etwas zur Seite. Darin war nun der bärtige Aborigine zu sehen, der sich dem offenen Fenster genähert hatte und wartete. Sein ganzer Körper war mit weißen Streifen bemalt. Ohne den Insassen sehen zu können, blickte er in das dunkle Fahrzeuginnere.


Draußen fand Jack einen fahrtüchtigen Wagen. Nachdem er die Mädchen auf den Beifahrersitz gesetzt hatte, stieg er ein, schaltete 
die Scheinwerfer aus und verriegelte die Türen. »So, wir haben nicht mehr weit. Wir fahren jetzt zu einer anderen Wohnung, dort treffen wir hoffentlich meinen Freund Costo.« 
Außer den vielen Autos, die Jack im Lichtkegel der Taschenlampe umfahren musste, und einer Horde Emus, die ihn überholte, war die Fahrt fast unspektakulär. In der Hoffnung, Costo oder Julia sehen zu können, fuhr er nicht schnell und hielt Ausschau. Doch niemand war draußen. Kurz vor dem Ziel meldete sich das ältere Mädchen. »Ich bin Klara und das ist Linda.« 
Linda war auf ihrem Schoß mittlerweile eingeschlafen.Ihr Gesicht strahlte den Frieden des gesamten Universums aus. 
Sie war ein Wunder wie ein jedes Kind. Jack kämpfte mit den Tränen. Unzählige dieser harmlosen und unschuldigen Kinder würden gerade sterben und das verursacht von den sogenannten Erwachsenen-Versionen dieser harmlosen Geschöpfe, also der eigenen Gattung. Weshalb konnte dieser pure und unschuldige Geist eines Kleinkindes nicht bewahrt werden? Wo kamen Hass und Gewalt auf einmal her? 
Wieso konnten alle Menschen nicht miteinander in Frieden leben? 
Klaraunterbrach seine Gedanken. »Wie heißt du?« 
»Wie bitte?« 
»Wie du heißt.« 
»Jack!« 
»Werden wir wie die anderen auch sterben?« 
»Nein, das lasse ich nicht zu!« 

 

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